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  • AutorenbildNoémi Müller

Ein Rückblick in die Vergangenheit

Kurze graue Haare. Ein rosa Poloshirt. Schwarze, knielange Hosen. Flache Kappa Schuhe. Und daneben eine knallgrüne Tasche. Der Inhalt bleibt mir unbekannt.

Mit seinen von mir geschätzten 1.60m sitzt dieser ältere Mann auf einem Platz im Tram und lässt seinen Blick in die Ferne schweifen.

Es ist 10:25Uhr, ich sitze im 14er Tram nach Basel. Der Herr sitzt vor mir. Unscheinbar beobachte ich ihn und wundere mich: Wie sieht wohl seine Geschichte aus?

Seine Haltung gibt mir den Anschein von Müdigkeit. Eine Hand auf dem Knie aufgestützt, die andere auf der knallgrünen Tasche liegend.

Nächste Station: Barfüsserplatz

Ich packe meine Sachen und drücke auf den Halteknopf. Mein Blick liegt immer noch auf der knallgrünen Tasche. Die Tür öffnet sich und ich trete ein in das Jahr 1970.


Neben mir ein Mann. Er kommt mir bekannt vor. Ich schätze ihn auf die 20 Jahre. Ein brauner Lockenkopf mit Lederjacke und blauer Jeans blickt mir glücklich entgegen. Er setzt sich in Bewegung und kommt mit einem Lächeln immer näher. Bei mir angekommen läuft er weiter. Durch mich hindurch. Ich existiere nicht. Er sieht mich nicht. Ich drehe mich um und erblicke ein neues Gesicht.

Kurzrasierte Haare, mit einem spitzigen Lächeln im Gesicht. Die Unterarme sind bedeckt von Tattoos. Man kann nur stark vermuten, dass sich unter seinem schwarzen T-Shirt noch einige mehr befinden.

In ihrer tiefen Umarmung kann ich eine gewisse Verbundenheit spüren. Ich fühle mich erfüllt und ausgeglichen. Ein befreiendes Gefühl. Es ist beinahe so, also ob ich das, was sich zwischen diesen zwei Menschen aufbaut, selbst empfinden kann.

Harmonisch, gefahrlos und auf eine gewisse Art intim.

Die Sicht verschwimmt, und langsam formt sich das Bild des Barfüsserplatzes wieder vor meinen Augen. Verwirrt von diesem Erlebnis höre ich meinen Magen knurren und schlage den Weg Richtung Coop ein. Die Schiebetüren öffnen sich und ich verschwinde ins Jahr 1975.

Laute Geräusche dringen zu mir durch. Ich registriere meine Umgebung und kann daraus schliessen, dass ich mich in einem Kaufhaus befinde. Allmählich kommt ein vertrautes Gefühl wieder auf. Harmonie, Freiheit. Es zieht mich in Richtung Kasse, wobei ich dort zwei bekannte Gestalten erkennen kann. Älter sehen sie jedoch aus. Aus den kurzrasierten Haaren wurde ein schulterlanger Mullet. Zusätzlich waren nun bei beiden Menschen Tattoos auszumachen. Unmerklich gehe ich auf sie zu. Es scheint, als ob sie gerade etwas kaufen würden. Ich mustere die Ablage. Etwas darauf weckt mein Interesse.

Zwei knallgrüne Taschen.

Meine Sicht ändert sich. Langsam breitet sich eine türkisblaue Fläche vor mir aus. Ich höre die Wellen, wie sie an den mächtigen Felsen brechen. Ich befinde mich in einer Bucht. Links von mir Häuser, die beleuchtet werden von der untergehenden Sonne. Ein warmes Orange macht sich über ihnen breit. Es sind kleine Häuser. Vereinzelt stehen sie da, zwischen den alten Nadelbäumen. Ich geniesse die warme Brise, die mir über das Gesicht streicht. Ich fühle mich wohl. Hinter mir erklingt ein Motorgeräusch. Ein gelbes Motorrad fährt auf den ruhigen Strand zu. Es unterbricht diese angenehme Stille. Die Eidechsen, die sich genüsslich auf den Steinen gewärmt hatten, sind nun verschwunden. Das Motorgeräusch verstummt. Das Fahrzeug steht still. Doch die vorherige Wärme ist verschwunden. Der Mann steigt ab und befreit sich von seinem Helm. Ich erschrecke kurz, als ich erkenne wer vor mir stand. Weinend, mit grosser Narbe im Gesicht geht der Lockenkopf auf die Wellen zu. Gespannt beobachte ich ihn. Er blickt in die Ferne, die Augen starr und fängt an zu Reden. Verwirrt von diesem Anblick nähere ich mich ihm, um besser zu verstehen, was aus seinem Mund gelangt. Eine Leere macht sich in mir breit. Der Lockenkopf spricht von Trauer, Reue und einer spürbaren Einsamkeit. Ich erfahre von einem Unfall. Genau hier, wo wir beide jetzt stehen. Langsam setzen sich die Puzzleteile in meinem Kopf zu einem klaren Bild zusammen. Ich fange an zu verstehen, wieso dieser gequälte Ausdruck das Gesicht dieses Mannes ziert. 1976. Eine Sommernacht mit Verunglücktem. In dieser Nacht starb jemand genau an diesem Ort, an dem wir uns befanden. Und diesem jemand gehörte die zweite knallgrüne Tasche.


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